Der Niedergang des Zeigefingers
Ein Verweis auf Peter Wagners Photographien,
von einem der nicht genannt werden wollte,
aus einer Zeit, als die digitale Welt noch in Windeln lag...
Als ich klein war, hampelten rasend viel kleine, mit einer riesengroßen Schwungfeder aufgezogene Blechmännchen und Blechweibchen - in Anzüge, mit Hut, Schnurbart oder langen Zöpfen beklebt - großstädtisch durch die Schwarz-Weiß-Filme der Geschichte. Oder torkelten auf Auswandererschiffen mit flatternden Händen von Steuerbord nach Backbord, trippelten Flamingofrauen in Tüll gewickelt durch Berliner Chausseen, weinten wie Sprühkerzen überfallsartig mehrere Liter in dramatischen Szenen, während Helden, wie es sie nur damals gab, ungebändigten Höllenautos nachjagten wie Kolibris. Auf den Fotografien standen dieselben Menschen in Würde, Ernst und Sonntagsanzug eingefroren, als hätten sie ein Leben lang für diesen einen Moment des Stillhaltens geübt. Das geschah vor unserer gefärbten Zeit, bevor die Menschen richtig und behutsam gehen lernten und bevor sie die Kunst und wohl auch die Lust verloren, mit Würde und Ernst in das Auge der Kamera zu blicken.
Irgendwie ziehen sie sich alle in sich zurück. Peter Wagner fotografiert in Zeitlupe. Flanierend, beiläufig, mit der Leichtigkeit eines okkularen Purzelbaumes und mit dem unausgesprochenen Einverständnis aller Portraitierten. Es ist, als ob jene den Photographen geradezu darum gebeten hätten, sie in der ihnen angenehmsten Stellung festzuhalten, um vom Öffnen bis zum Schließen der Blende mit der spielerischen Gemütsruhe eines einbeinigen Storches zu verharren, als ob sie nur so in Schuhschachteln voll Fotos überwintern könnten.
Ich vermisse daher auch bei Peter Wagner das Foto, in dem die Wut des unwillkürlichen Stillhaltenmüssens festgehalten wurde. Ein Läufer, dessen innere Anspannung das Papier rissig machen könnte, ein nicht losgelassener Atem, der den Hals bläht wie ein berstender Frosch, ein angehaltener Blick: als ob die konkave Pupille anschwellen müsste, bis das Foto Blasen wirft. Herr Wagner hingegen frönt dem inversen Spektakel: Die Portraitierten sind "Schläfer". wie jene Agenten zuerst ein unscheinbares Leben als MüllerMaier ... führen, um dann "von drüben" wieder aktiviert zu werden, fristen Wagners Fotos ein unbeachtetes Dasein, bis jemand mit der Begabung des Stillhaltens und der Aufmerksamkeit kommt und das Innenleben des Fotos ausspioniert. So warten die Kinder unter der Zirkuskuppel irischer Mammutbäume seit dem Öffnen der Blende darauf, dass sie als Kinder auf einem anderen Bild dort wieder weitermachen dürfen, wo sei bei Wagners Foto aufgehört haben. Aufgehört haben, im Hohlspiegel des Betrachters abenteuerlich erwachsen zu werden
...Ein Lachen zu fotografieren, ohne dabei mehr als eine seitliche Hinteransicht eines Mädchenkopfes zu bieten, das ist, als ob das Ohr verwelken würde, um mit dem Auge am Relief des Gesichts die Anspannung der Vokale abtasten zu können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemals ein Klicken zu hören war, als Wagner die unterschiedlichen Tempi des Lebens mit der damit korrespondierenden Belichtungszeit festhielt. Schlechte wie gute Schwarz-Weiß-Fotokunst erkennt man daran, dass man sofort weiß, warum sie gemacht wurde. Deren geschmäcklerische Effekte rufen so etwas wie wie Herzzwitschern hervor: Ach wie delikat: lachender Clochard, Bonjour Tristesse, Schmuddeljunge küsst Mädchen, Hinterhofbühnen, der große Bahnhof Welt, Paris und nochmal Paris, Brücken und Strände mit Einsamkeiten drapiert, Symmetrien und Saxophonspieler unter New Yorker Straßenlampen. Jedes dieser Fotos ist ein Abziehbild aus dem Archiv des "What a wonderful world this could be..."
Herr Wagner hingegen frönt dem inversen Spektakel: Die Portraitierten sind "Schläfer". wie jene Agenten zuerst ein unscheinbares Leben als MüllerMaier ... führen, um dann "von drüben" wieder aktiviert zu werden, fristen Wagners Fotos ein unbeachtetes Dasein, bis jemand mit der Begabung des Stillhaltens und der Aufmerksamkeit kommt und das Innenleben des Fotos ausspioniert. So warten die Kinder unter der Zirkuskuppel irischer Mammutbäume seit dem Öffnen der Blende darauf, dass sie als Kinder auf einem anderen Bild dort wieder weitermachen dürfen, wo sei bei Wagners Foto aufgehört haben. Aufgehört haben, im Hohlspiegel des Betrachters abenteuerlich erwachsen zu werden.