Gandalf oder Galadriel?
Durchs dunkle Tal mit Rohini Ralby
Ich kannte Rohini aus Erzählungen von Johannes. Sie war über viele Jahre seine Ratgeberin und Lehrerin. Damals am Anfang war ich für einen Moment misstrauisch gewesen, aber ich fand, dass Johannes eine gute Entwicklung nahm und sich sein Horizont erweiterte und nicht verengte. Und ich entnahm seinen Erzählungen, dass Rohini und ich in vielen Bereich ähnliche Ansichten über Gott und die Welt hatten. Ich mochte ihren Ansatz über die Stille, ihr Interesse für Mystik und wir hatten auch in Fragen der Kindererziehung Übereinstimmungen. Wir richteten uns gegenseitig immer wieder einmal Grüße aus, aber ich dachte nicht, dass wir uns einmal direkt begegnen würden.
Dann geschah etwas Unerwartetes in meinem Leben, etwas, das sehr schmerzhaft war, etwas, das drohte, mich aus der Bahn zu werfen. Auch wenn es eigentlich nicht meine Art ist, fremde Hilfe anzunehmen, den Weg durch dieses Tal wollte ich nicht ohne Begleitung gehen. Ich suchte und fand Unterstützung an mehreren Stellen. Johannes vernetze mich mit David, dem Ehemann von Rohini, der eine ähnliche Situation erlebt hatte. Und so kam es, dass ich schließlich auch direkt an Rohinis Tür klopfte.
Rohini überraschte mich gleich zu Begrüßung, indem sie behauptete, dass ich ohnehin schon lange zu diesem Kreis dazu gehörte. Neben Johannes war auch meine Tochter Maria damals in der Gruppe, und ich hatte auch schon andere Schüler von Rohini kennengelernt als ich mal in England gewesen war. Durch die vielen Erzählungen war sie und ihre Weltsicht so präsent für mich, dass ich tatsächlich auch selbst schon manchmal so etwas Ähnliches gedacht hatte.
Meine neue Lage war zu der Zeit sehr unübersichtlich, ich sah noch kein Ziel und keinen Weg, wusste nur, dass es unvermittelt sehr finster geworden war und tappte Schritt um Schritt weiter. Vielleicht war es deshalb einer meiner ersten Fragen an Rohini, ob sie so eine Art Galadriel sei, ob sie mir wie Frodo eine erste Orientierung verschaffen könnte, vielleicht sogar auch ein Licht für dunkle Stunden. Rohini sagte, ihre Rolle sei eher die eines Gandalf. Der Unterschied? Nun, Gandalf ist lange auf dem Weg mit Frodo. Auch dort, wo sie getrennt sind, trägt er Sorge für das Gelingen des Vorhabens.
Ich hatte die Frage gestellt, ohne viel nachzudenken, aber ich war doch erstaunt über ihre Antwort – ein Weltmeer lag zwischen uns, wie sollte das möglich sein? Wir trafen uns ab und an online, schrieben ein paar E-Mails, ich war manchmal in ihrem Unterricht und öfter bei ihren Meditationen. Ich wollte zu Beginn, trotz meiner Lage, vielleicht auch nur ein bisschen „unverbindlich herumphilosophieren“, ein bisschen Unterstützung, vielleicht auch ein wenig „baden“ in der Aura, die sie zu umgeben schien. Doch Rohini trat direkt in mein Leben ein und begann wie Gandalf meine Mission zu begleiten.
Rohinis Fragen und Antworten an mich waren stets kurz, unverblümt und manchmal auch streng. Am meisten verblüffte mich ihre Auffassungsgabe. – Während ich versuchte, etwas zu beschreiben, was ich selber noch kaum verstand, schien sie intuitiv meine Lage rasch erfassen zu können. Sie beurteilte, fast möchte ich sagen „ungeniert“ meine Situation, ohne lange um den heißen Brei herum zu reden, hielt mir einen nicht immer nur schmeichelhaften Spiegel vor, sagte mir was ich tun und lassen sollte, beschrieb von wo ich mich weg und wo ich mich hinbewegte. Und stellte das alles in einen Zusammenhang mit dem was in meinem Leben in den drei Jahrzehnten davor passiert war. Aus ihrer Sicht schien alles was geschehen war zum richtigen Moment gekommen zu sein, und sie war überzeugt, dass ich am Beginn eines neuen, glücklicheren Lebensabschnitts stand.
Der liebe Verstand! Ich war nicht nur verblüfft über das was Rohini mir sagte, es regte sich Widerstand. Natürlich war es verlockend, eine solche Prophezeiung zu vernehmen. Jemand, der in einem dunklen Tal ist, möchte ja geradezu glauben, dass das alles einen Sinn hat, dass es ein Happy End geben wird. Ok, manches konnte sie wissen, weil sie verschiedene Dinge aus meiner Familiengeschichte von Johannes und Maria kannte. Manche Dinge kann man wissen, weil es allgemeine Dinge sind. Und ein „alles wird wieder gut“ kann man immer sagen. Aber es schien mir, dass sie sich bei der Analyse meiner Lage und ihrer weiteren Entwicklung recht weit aus dem Fenster gelehnt hatte und auch Dinge sagte, die jenseits jeder Wahrscheinlichkeit lagen.
Ich sprach darüber mit Johannes. Er sagte so in der Art, dass Rohini ihm in zehn Jahren viele ähnlich abenteuerliche, manchmal abstrus erscheinende Dinge gesagt habe, dass er Mut gebraucht hätte, sich darauf einzulassen, dass er sich letztlich dafür entschieden habe - und dass alles eingetroffen sei. Ich hielt dagegen, dass es niemanden geben könne, der auf alles eine Antwort wisse und den Lauf der Dinge voraussehen kann. Er sagte, ja, auf manche Fragen hätte er von Rohini auch keine Antwort erhalten. Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: Aber auf alle, die es ankam.
Natürlich wollte ich das alles gerne glauben, aber so weit war ich damals nicht und bin es vermutlich auch heute nicht. Zugleich kann auch ich heute selber sagen, dass sich bisher alles, was Rohini mir gesagt hat, erfüllt und Frucht getragen hat. Ich bin geworden, was ich nach dem Tod meiner Frau nie war, nämlich glücklich. Ich habe die Dinge, die es loszulassen galt, losgelassen, habe mich auf den Weg gemacht, viel in meinem Garten gearbeitet, und habe der Fotografie nach Jahren des Zauderns wieder einen Platz gegeben in meinem Leben, wie sie ihn früher während meiner Studienzeit hatte. Oder einen noch besseren. Gandalf sei gedankt!
Das wäre, vom Ausgangspunkt betrachtet, schon mehr als genug gewesen, aber es ist nicht alles. In der Zeit der Krise hatte ich schon begonnen, in Rohinis Buch „Going home with Baba“ zu lesen. Am Anfang ohne großes Interesse, mehr aus dem Wunsch heraus, den Hintergrund dessen, was sie lehrte und damit das, was sie auch mir sagte, besser zu verstehen. Ich fand was ich suchte, auch wenn mein erster Eindruck war, dass diese biografischen Geschichten, in deren Mittelpunkt die Zeit bei ihrem eigenen Lehrmeister steht, zu lose zu den Grundlagen ihrer Lehrinhalte standen.
Aber ich las das Buch immer wieder, und je länger ich es tat, desto reichhaltiger wurde es mir. Am Ende war es dann für viele Monate Anleitung und Inspirationsquelle. Manchmal nahm ich es zur Hand in ganz dunklen Stunden. Ich schlug es auf an einer beliebigen Stelle, und fand dabei immer diesen einen Satz, auf den es ankam und der dann wie ein Licht seine Wirkung entfaltete. Und schließlich, ohne dass ich bewusst danach gesucht hätte, hat dieses Buch meinem Denken und Handeln und meinem Leben insgesamt eine völlig neue Richtung gegeben. Oder sagen wir, ich war innerlich schon längst reif für diesen Schritt, aber es hat mich bei der Metamorphose begleitet.
Das Leben ist eine Reise mit offenem Ende. Es führt durch dunkle Täler und es führt an lichte Auen. Durch dieses dunkle Tal bin ich mit Gandalf gegangen. Das Buch war mir dann das Licht, das Galadriel Frodo geschenkt hat, und dass er auch auf weiteren Wegen bei sich trug.