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Menschen in Cafés

Das Kaffeehaus (vor allem das Wiener Kaffeehaus) ist, seit es die Fotografen für sich entdeckt haben, bis heute immer wieder Gegenstand zahlloser Fotografien und ganzer Fotoserien gewesen. Das Spektrum reicht dabei von ateliermäßig ausgeleuchteten, sorgfältig aufs Malerische bedachten Arrangements von Melange, Glas Wasser und Guglhupf, über Aufnahmen von Kaffeehaus-Innenräumen mit ihrem oft sehr schönen Mobiliar, bis hin zu Fotostudien "interessanter" Kaffeehaus-Besucher. In einem gewissen Sinn tragen diese Fotos alle etwas von ihrem jeweiligen Photographen in sich. Zumindest geben sie Aufschluss darüber, was ihm am Kaffeehaus wichtig ist (vielleicht auch: welche Klischees er damit verbindet), und ob es für ihn als ganzen Menschen (und nicht nur als fotografierenden Menschen) eine Bedeutung hat, ob er das Kaffeehaus liebt.  Peter Wagner gibt seinen Kaffeehaus-Fotos den Titel "Menschen in Cafés", und das ist schon ein deutlicher Hinweis darauf, was ihm am Kaffeehaus wichtig ist: Es geht also in erster Linie um Menschen. Wobei es aber - und auch das scheint der Titel anzudeuten - wiederum nicht unwichtig ist, dass diese Menschen nicht irgendwo sind, sondern eben und gerade im C a f é. Was, so können wir einmal ganz naiv fragen (ohne diese Frage gleich zu beantworten), ist denn das Besondere an dieser Verbindung von Mensch und Kaffeehaus? Was "passiert" denn so Außergewöhnliches im Café?
Heimito von Doderer, der große österreichische Romancier, hat einmal geschrieben, das Besondere, ja geradezu das Markenzeichen des (Wiener) Cafés bestünde darin, dass dort nichts los sei. Auch Peter Wagner Fotos, nicht nur die zum Thema "Menschen in Cafés", erwecken alles andere als den Eindruck, als ginge es dem Photographen darum, mit seiner Kamera überall dort zur Stelle zu sein, wo im vordergründigen Sinn etwas los ist. Wohl deshalb, weil für ihn das zu oft unterschätzte Alltägliche, das leicht zu Übersehende, das scheinbar nicht Fotografierenswerte eine eigentümliche Anziehungskraft besitzen. möglicherweise ist er darin dem Kaffeehaus-Besucher verwandt, der sein Café gerade deshalb aufsucht, weil dort nicht los ist, weil ihn dort nichts davon abhält, wach und von allem Lauten unbehelligt das wahrzunehmen, was außer diesem <Nichts> sonst noch geschieht. Und so hat Doderer es wohl gemeint: Wer empfänglich ist für das Unscheinbare, wer zu schauen versteht, der hat natürlich gerade im Café eine ganze Menge zu erleben.
Dazu braucht es vor allem eines: Zeit. Das Kaffeehaus als eine Lebensform also, in der sich eine Kultur der Langsamkeit und des Zeithabens entfalten kann, wo sich einer, der die Langsamkeit liebt und das menschengerechte Tempo sucht, im gleichen Rhythmus führen kann mit dem Geschehen rings um ihn. Vielleicht ist das einer der wichtigsten Gründe dafür, warum das Kaffeehaus so schnell nicht aussterben wird: Besteht doch gerade in einer schnellen Zeit die Sehnsucht nach dem Zeithaben, und damit auch die Notwendigkeit, dass es Orte gibt, die uns immer wieder an diese Sehnsucht erinnern. Dass für Peter Wagner gerade dieser Aspekt des Kaffeehauses besondere Wichtigkeit besitzt, davon legt die Ruhe, die viele seiner Kaffeehaus-Bilder ausstrahlen, Zeugnis ab: Die Versunkenheit des Mannes, der im Café Windingstairs in Dublin seine Zeitung liest; oder der sanftmütige Alte im Café Chioggia in Venedig, der aussieht wie Pan Tau und der, halb auf seinen Regenschirm gestützt, dasitzt, als hätte er alle Zeit der Welt. Er scheint so viele Geschichten in sich zu tragen - vielleicht deshalb, weil er es nie eilig gehabt hat?

Das Café ist zeitlos in zweierlei Hinsicht. Zunächst einmal in dem Sinne, dass Zeit hier weder Geld noch sonstwie von Bedeutung ist. Man kann sie zweckfrei vergehen lassen, ohne sie totschlagen zu müssen. Es erscheint wie eine Ironie, dass auf dem Foto aus dem Café im Musée d’Orsay eine gigantische Uhr zu sehen ist, die alles überragt. Doch wenn man genauer hinsieht, entdeckt man, dass sie (zumindest auf dem Foto) stehengeblieben ist und dass sie den Kaffeehausbesuchern gewissermaßen den Rücken zukehrt, so als ob sie an ihnen nicht interessiert wäre oder sie für die Dauer des Kaffeehausbesuchs außerhalb ihrer Gesetze gewähren ließe.

Für Peter Wagner beginnt das Kaffeehaus offenbar nicht bei den weltberühmten und vielfrequentierten Wallfahrtstempeln für Kaffeehausliebhaber und -absolvierer (eher schon endet es dort), sondern das Kaffeehaus beginnt eigentlich schon dort, wo sich Menschen zusammenfinden (oder ein Mensch „mit sich selbst“), um allein oder in Gesellschaft (und womöglich bei einer Schale Kaffee) dieses zweckfreie Zubringen von Zeit zu üben. Ja eigentlich braucht es gar nicht unbedingt ein Haus, damit sich Kaffeehaus ereignen kann: Ein paar Tische und Stühle im Schatten eines Baumes oder einer Hauswand genügen – wie hier in Griechenland -, und schon kann sich auf dieser ein wenig improvisiert wirkenden Basis alles weitere entwickeln. Im argentinischen Film <Sur> sieht man, als eine Art Leitmotiv des Films, mehrmals ein paar Männer, Freunde, im Freien an einem einzigen Kaffeehaustisch sitzen, und von diesem Kaffeehaustisch ist die Rede als vom „Tisch der Träume“. Obwohl das Kaffeehaus auch anderes sein kann als ein Ort gemeinsamen – oder – einsamen Träumens: Gibt es ein schöneres Bild für den Zauber des Miteinander am Kaffeehaustisch?

Noch in einer anderen Beziehung hat das Café etwas Zeitloses: Als Ort der möglichen Rückkehr zum Gleichbleibenden, Gewohnten und Beständigen inmitten der vielen äußeren Veränderungen und inneren Wandlungen, die wir im Laufe eines Lebens durchmachen. Es tut unbeschreiblich gut, nach langer Zeit der Abwesenheit wieder ein bestimmtes Café zu betreten, in dem man sich früher einmal wohlgefühlt hat, und dabei festzustellen, dass noch alles beim Alten ist, während man selbst doch in der Zwischenzeit so viel Neues erfahren hat. Man braucht sein Zentrum. Das wird natürlich nicht für jedermann das Kaffeehaus sein, doch eines ist sicher: Für wen es in diesem Sinne Zentrum und Verweilstätte ist, für den ist das Kaffeehaus nicht Luxus, sondern Notwendigkeit.

Wir wollen uns aber davor hüten, das Café zu idealisieren. Auch aus Peter Wagners Kaffeehaus-Bildern spricht das Bemühen, nach Möglichkeit keinen verklärenden Klischees aufzusitzen, die im Kaffeehaus das Paradies auf Erden sehen wollen. (Und doch steht die Absicht, das Kaffeehau als „Ort der 1000 Schönheiten“ zu zeigen, spürbar im Vordergrund). So muss hier zumindest einmal gesagt sein, dass man sich im Kaffeehaus auch fürchterlich langweilen kann, dass der Kaffee manchmal abscheulich schmeckt, dass man auch einmal an den eigenen Träumen verzweifeln mag, dass einem das gute Gespräch, nach dem man sich so gesehnt hat, oder die erhoffte menschliche Begegnung hartnäckig verwehrt bleiben, dass sich gar kleinere und größere Tragödien im Café abspielen. Aber bitte: Wer hat behauptet, dass dies alles nicht sein dürfe? Man darf dennoch überzeugt sein, dass – könnte man es „statistisch erheben – im Café auffallend öfter als am Arbeitsplatz oder in der U-Bahn der Gedanke gedacht wird, dass es gut ist zu leben. Ist das nicht schon sehr viel?

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