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Mein Schiller

Während der Zeit meines Germanistikstudiums kamen mir in der Biographie Goethes ein paar Sätze unter, die seine Beziehung zu Schiller beleuchteten. Demnach war er nach seinen anfänglichen Erfolgen als Dichter mehr und mehr zu einem Verwalter am Hof des Herzogs mutiert und seine folgenden literarischen Ergüsse wurden bei der Leserschaft wohlwollend, aber auch ohne jeden störenden Überschwang aufgenommen worden. Als dann aus der Bekanntschaft mit Schiller eine echte, produktive Freundschaft wurde, änderte sich alles wieder und Goethe war angeregt zu neuen literarischen Heldentaten. Ob es wirklich so war, weiß ich natürlich nicht, dennoch ist mir diese Geschichte irgendwie im Bewusstsein geblieben.

Es war zunächst ein Wunder gewesen, dass ich überhaupt mit der Fotografie begann. Eine Reihe von Zufällen ermöglichten es mir, den kühnen Versuch zu wagen, als Fotograf zu arbeiten. Aus kleinen und unscheinbaren Szenen, die ich auf der Straße oder in Cafés beobachtete und fotografierte, baute ich mir eine eigene Welt, eine Welt die mir besonders schien und deren Zeuge ich damit sein konnte. Das Interesse an meinen Fotos übertraf zunächst alle meine Erwartungen. Der vielversprechende Beginn machte mich glauben, dass ich auf dem Weg zum Erfolg war. Doch die Zeit verging und ich musste mir irgendwann eingestehen, dass trotz vieler Versuche der ganz große Durchbruch nicht gekommen war. So schön es war zu fotografieren, die wirtschaftlichen Sorgen drückten mich mit den Jahren mehr und mehr zu Boden, begannen meine Schaffensfreude zu trüben und meine Kunst zu beeinflussen. Ich tat was zu tun war, hängte die Fotografie an den Nagel und kurze Zeit später fand mich mein „Brotberuf“.

Es war damals die richtige Entscheidung. Für mich, für meine Beziehung, für meine größer werdende Familie. Ich wurde jedenfalls recht bald auch ohne Fotografie wieder so glücklich wie man nur sein kann. Vielleicht war es dieses Glück, vielleicht die Herausforderungen meiner Arbeit, ohne es zu merken, verlor ich mit der Zeit sogar selbst das Interesse an den Heldinnen und Helden. Ich hörte auf sie zu suchen, sogar sie zu sehen, ich lebte in meiner eigene Welt und es war mir genug. Es war auch mehr als offensichtlich, dass die Welt meine organisatorischen und wirtschaftlichen Talente mehr zu schätzen vermochte. Aber mit den Jahren fehlte mir doch etwas und ich spürte eine ungestillte Sehnsucht, ich sprürte, dass ich vom Standpunkt der Ewigkeit betrachtet – nie etwas Wichtigeres gemacht hatte als diese Fotos. Ich war deswegen noch kein unglücklicher Verwalter, aber ich hoffte irgendwie, dass eines Tages auch in mein Leben noch ein Schiller treten würde.

 

Wenn ich von allem Alltäglichen ein paar Schritte zurücktrete, dann kann ich sagen, dass sich fast alle Sehnsüchte irgendwann erfüllt haben in meinem Leben. So war es auch mit dieser. Und dass die Dinge kamen und gleichzeitig doch auch immer ganz anders waren. In Bezug auf das Thema war es ein Muttermal - ein dunkler, größerer werdender Fleck auf dem Bauch meiner Frau, der nicht nur unser Leben aus der Komfortzone katapultiert hat, sondern der mich mit meinem Schiller näher bekannt gemacht hat. Meine Frau, die Brüchigkeit des eigenen Lebens vor Augen, veränderte sich durch die Krankheit. Trotz schwerer Operationen und langer Krankenhausaufenthalte begann sie zu schreiben und zu malen, begann Dinge zu denken und  auszusprechen und zu tun, für die es davor unmöglich schien, Zeit und Energie und Mut zu haben. 

 

Zuerst war ihre Verandlung beinahe ein erschreckendes Gefühl, dann war ich fasziniert und schließlich inspiriert. Es war eine sehr schmerzliche, gleichzeitig eine so intensive und für mich anregende Zeit. Ich bewunderte ihre Entschlossenheit, ich war beinahe täglich neu überrascht, wie sie den zur Verfügung stehenden (Lebens-)Raum nützte und wie ihre Gedanken und Werke und überhaupt ihr Leben eine neue Einheit bildeten. Wir feierten jedes ihrer Gemälde wie ein Fest, um die Bilder schmiegen sich ihre Gedanken und Gedichte, um das alles ihres und unser neues Leben. Sie folgte keinem Kunstgeschmack, es kümmerte sie kein Zeitgeist, sie hatte keinerlei kommerzielles Interesse, nein, sie malte und schrieb einfach unverblümt und befreit was sie bewegte, wie mit der Unschuld und Begeisterung eines Kindes. Ich kann sagen, dass mich nie zuvor oder danach ein Mensch, die Art wie er lebte und sich in sein Schicksal fügte, dass mich nie ein Werk so berührt und inspiriert hat. Selbst über ihren Tod könnte ich Ähnliches sagen.

 

Heute, wo ich meine Trauer überwunden habe, kann ich über die Ironie des Lebens lachen – ich hatte viele Jahre auf meinen Schiller gewartet, und nach so vielen gemeinsamen Jahren erst gemerkt, dass ich ihn nicht nur längst kannte, sondern dass ich mit dem meinem sogar verheiratet gewesen war.

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